Weise Menschen: Für ewig jung - ਗੁਰਮੁਖਿ ਬੁਢੇ ਕਦੇ ਨਾਹੀ
Wer lernt bleibt jung - Wer rastet der rostet
Lebenslanges weisheitsorientiertes Lernen bildet das Herzstück der Sikhi, der Reise spiritueller Schüler. Bei diesem erwachten Lebensweg geht es darum, kontinuierlich seelisch zu wachsen, zu heilen und wieder vollständige innere Einheit zu erlangen. Dabei ist es grundlegend, sich unserer bescheidenen Rolle als spirituelle Gäste in der Diaspora der Vergänglichkeit bewusst zu werden und den Körper als kostbares Geschenk anzusehen, der uns vielfältigste Erfahrungen ermöglicht.
Kernbotschaft der Verse über das Jungbleiben: Gurmukhe Budhe Kade Nahi
Die folgenden Einsichten der Gurmat, zeitlosen spirituellen Weisheiten, die schriftlich überliefert wurden (Gurbani) und im Herzen der Sikhi stehen, wurden dem Erleuchteten Gur Amar Das (1479- 1574) offenbart und werden im letzten Abschnitt zeilenweise übersetzt. Wie bei jeder Übersetzung von Gurbani, handelt es sich hier um eine herausfordernde Annäherung an die poetische und metaphorische Schönheit der Originalverse.
Das innere Kind und mentale Dekolonisierung: Vom Verlernen und Lernen
Jung sein symbolisiert in der Gurmat einerseits die Offenheit für eine mentale Dekolonisierung. Damit ist die demütige Bereitschaft gemeint, all das zu verlernen, was von außen auf uns einströmt und uns dabei so prägt, dass wir uns von unserer spirituellen Natur entfremden. Dazu zählt zum Beispiel lineares Wachstumsdenken. Im Herzen jung vermögen die zu bleiben, die andererseits ungeachtet des biologischen Alters das innere Kind der Reinheit bewahren. Sie hören vor allem dann aufmerksam zu und sind lernbereit, wenn sie weisheitsorientierte Einsichten vermittelt bekommen, die zunächst fremd erscheinen oder gar innere Widerstände auslösen sowie Kindheitsprägungen und Glaubenssätze in Frage stellen. Dazu gehört unsere Identifikation mit Menschen gemachten Dogmen, Glaubensvorstellungen, Verhaltenskodexen, Ritualen, Parteien, nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppen, Marken und Trends.
Gurmukh: Weise und intuitiv in Verbindung mit Kindern
Weise Menschen bleiben innerlich jung. Sie werden unter anderem Gurmukh oder Gursikh genannt. Sie haben intuitiv eine spielerische, liebevolle und potenzialorientierte Verbindung mit Kindern. Denn wie Kinder, sind sie selbst in einem Zustand der Leichtigkeit, Aufmerksamkeit, des Lernens und der Kreativität, und zwar unabhängig von den äußeren Umständen. Sie bewahren ihre ursprüngliche Reinheit und agieren aus dem Moment und ihrem gesamten Sein heraus und nicht strategisch. Weise Menschen sind voller Weitsicht und erwecken im Alltag alle nur erdenklichen Tugenden zum Leben. Sie sind sich dabei bewusst, dass Tugenden und einheitsstiftende Werte niemals einer bestimmten Gruppe oder Religion gehören, sondern lediglich das Copyright der Göttlichkeit in sich tragen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass ein erwachtes Leben über Rituale, Äußerlichkeiten, materielle Annehmlichkeiten, Routinen und einfache Antworten hinausgeht und eine fortwährende innere und ethische Ausrichtung auf die höhere Weisheit des Lebens mit sich bringt. Entsprechend empfänglich sind Junggebliebene für die höhere Weisheit des Lebens, die auch Stimme des Göttlichen genannt wird (Sabad, Bani, Nad, Gur Ka Phnana).
Manmukh: Getrieben von Egoismus und vergänglichen Phänomenen
Diejenigen, die hingegen von ihrem Intellekt, ihren Emotionen und ihren Identifikationen im Außen getrieben sind, werden Manmukh genannt. Sie haben sich von ihrem seelischen Selbst entfremdet. Sie sind an vergängliche Phänomene gebunden und identifizieren sich bis ins hohe Alter mit flüchtigen Emotionen, Begierden, konkurrenzgetriebenen Eifer, weltlichem Wohlstand, menschengemachten Konstrukten wie Nationalstaaten, Orthodoxien, intellektuellen Kategorien und Dogmen. Manmukh streben zudem nach einem langen biologischen Leben und sehen den Tod als ein technisches Problem, das es zu beseitigen gilt. Sie nehmen dafür transhumanistische Ansätze und die Zuhilfenahme von riskanten Medikamenten und Experimenten in Kauf.
Lebenslanges Lernen wirkt generationenübergreifend
Jung bleiben bedeutet nicht, dass der Körper nicht altert. Es ist ein Naturgesetz, dass alles, was geboren wird, altert. Jungsein symbolisiert die fortwährende Bereitschaft für seelische Evolution, auch im hohen biologischen Alter. Diese lebensbejahende Einstellung wirkt sich nicht nur gesundheitsfördernd auf unsere Psyche und unseren Körper aus, sondern auch auf die Gesellschaft. Denn je gesünder das Individuum, umso gesünder auch das Kollektiv.
Lebenslanges Lernen hat auch einen positiven generationenübergreifenden Einfluss. Dort, wo die Weisheit des Gesagten im Vordergrund steht und nicht die Sprechenden oder gar ihre Herkunft oder ihr Alter, können körperlich junge und alte Menschen gleichermaßen respektvoll voneinander lernen und näher zusammenwachsen. Gur Har Rai (1630-1661), Gur Har Krishan (1656-1664) und Gur Gobind Singh (1666-1708) sind beeindruckende Verkörperungen dieses generationenübergreifenden Ideals. Sie waren bereits im jungen Alter so weise, tugendhaft und charismatisch, dass sie eine natürliche Autorität besaßen. Sie waren wahre Gurmukh, spirituell vollständig erwachte Menschen, die alle Generationen aus unterschiedlichsten soziokulturellen Hintergründen mit Hilfe zeitloser Weisheiten vereinten.
Bewusst das Richtige zu lernen
Die Kunst, das Richtige richtig zu lernen, ist für ein erwachtes Leben unerlässlich. Wahrhaftige Schüler lernen bewusst, das Richtige zu verinnerlichen. Als richtig (Khara, Pun) wird in der Gurmat all das angesehen, was ganzheitlich und langfristig Lebensfreude, Sinnerfüllung, Einheit und Heilung hervorbringt. Als falsch (Khota, Pap) wird das angesehen, was langfristig Mensch, Tier und Umwelt Schaden zufügt, Abgrenzung und Zwietracht sät und Zerstörung mit sich bringt.
Erwachte Schüler wissen, was ihre Seele langfristig nährt und sie mental sowie körperlich gesund hält, ohne anderen Menschen, Tieren und der Natur unnötig zu schaden. Diejenigen, die jedoch ohne weitere Reflexion Geschäfte, Aktivitäten und Hobbies wie Golfen, Skifahren oder Motorrennen nachgehen, die der Natur durch übermäßigen Wasserverbrauch, Abholzung und Luftverschmutzung schaden, leben unbewusst und nicht im Einklang mit ihrem seelischen Selbst und Mutter Erde. In diesem linearen Dasein mit Extremen nach dem Motto “immer mehr, immer weiter und immer höher”, bleibt noch ein weiter Weg zu beschreiten hin zu einer demütigen, zyklischen und geerdeten Lebensweise.
Die Kunst eines erfüllten und gleichmütigen Lebens
Der ganzheitliche Weg der Sikhi ermutigt dazu, ein Leben der Innenschau mit Hilfe uns allen innewohnenden spirituellen Weisheiten zu führen, die uns nähren und erheben. Wenn wir die Kunst der Selbstbeobachtung und Kontemplation beherrschen, können wir wahrhaft weise Menschen werden. Dann sind wir in der Lage, ein bewusstes Leben im Einklang mit unserem göttlichen Selbst und der höheren Weisheit des Lebens zu führen. Ähnlich der Kunst des Bogenschießens, die Konzentration, Balance und die Fähigkeit erfordert, im richtigen Moment loszulassen, zentriert uns die Innenschau. Mit ihrer Hilfe können wir in jedem Alter ein erwachtes Leben führen, welches durchdrungen ist von Freude und intuitivem Gleichmut. Dabei werden Schmerz und Freude gleichermaßen angenommen, da Anhaftung und Identifikation mit vergänglichen Phänomenen hinter sich gelassen wurden.
Übersetzung
ਗੁਰਮੁਖਿ ਬੁਢੇ ਕਦੇ ਨਾਹੀ ਜਿਨੑਾ ਅੰਤਰਿ ਸੁਰਤਿ ਗਿਆਨੁ ॥
Die Weisen und Spirituellen (Gurmukh) altern niemals, da sie bewusst im Einklang mit ihrer innewohnenden spirituellen Weisheit leben.
ਸਦਾ ਸਦਾ ਹਰਿ ਗੁਣ ਰਵਹਿ ਅੰਤਰਿ ਸਹਜ ਧਿਆਨੁ ॥
Sie leben fortwährend die Tugenden des Göttlichen (Har) und sind dabei intuitiv im Einklang mit ihrem seelischen Kern.
ਓਇ ਸਦਾ ਅਨੰਦਿ ਬਿਬੇਕ ਰਹਹਿ ਦੁਖਿ ਸੁਖਿ ਏਕ ਸਮਾਨਿ ॥
Sie verbleiben stets im Zustand der Glückseligkeit und Erwachtheit und betrachten Leid und Freude mit Gleichmut.
ਤਿਨਾ ਨਦਰੀ ਇਕੋ ਆਇਆ ਸਭੁ ਆਤਮ ਰਾਮੁ ਪਛਾਨੁ ॥੪੪॥
Diejenigen, deren Vision von Einheit geleitet wird, erkennen die Essenz des Göttlichen (Ram) in allem.
ਮਨਮੁਖੁ ਬਾਲਕੁ ਬਿਰਧਿ ਸਮਾਨਿ ਹੈ ਜਿਨੑਾ ਅੰਤਰਿ ਹਰਿ ਸੁਰਤਿ ਨਾਹੀ ॥
Intellekt- und emotionsgeleitete Menschen (Manmukh) bleiben unreif; selbst im hohen Alter fehlt ihnen das Bewusstsein für das Göttliche im Inneren.
ਵਿਚਿ ਹਉਮੈ ਕਰਮ ਕਮਾਵਦੇ ਸਭ ਧਰਮ ਰਾਇ ਕੈ ਜਾਂਹੀ ॥
Verstrickt in ihr Ego bereuen sie ihre Handlungen vor ihrem inneren Richter der Rechtschaffenheit (Dharam Rae).
ਗੁਰਮੁਖਿ ਹਛੇ ਨਿਰਮਲੇ ਗੁਰ ਕੈ ਸਬਦਿ ਸੁਭਾਇ ॥
Gurmukh sind rein, frei von Unreinheit und im Einklang mit der inneren göttlichen Stimme (Sabad).
ਓਨਾ ਮੈਲੁ ਪਤੰਗੁ ਨ ਲਗਈ ਜਿ ਚਲਨਿ ਸਤਿਗੁਰ ਭਾਇ ॥
Unreinheit haftet ihnen nirgends an, solange sie in Harmonie mit wahrer spiritueller Weisheit wandeln.
ਮਨਮੁਖ ਜੂਠਿ ਨ ਉਤਰੈ ਜੇ ਸਉ ਧੋਵਣ ਪਾਇ ॥
Die Unreiheit der Manmukh kann nicht abgewaschen werden, auch wenn sie Hunderte von äußeren Reinigungspraktiken vollziehen.
ਨਾਨਕ ਗੁਰਮੁਖਿ ਮੇਲਿਅਨੁ ਗੁਰ ਕੈ ਅੰਕਿ ਸਮਾਇ ॥੪ੵ॥
Nanak, die Gurmukh sind vereint und verschmelzen mit göttlicher Weisheit.
GGS, 1418, M.3