Haltung machen Leute, nicht Kleider: Sikh wird Ratsvorsitzender

Die Novelle des Schweizer Dichters Gottfried Keller „Kleider machen Leute“ zählt zu den bekanntesten Erzählungen der deutschsprachigen Literatur. Darin geht es um einen armen Schneiderlehrling, der sich gleichwohl fein kleidet. Wegen seiner vornehmen Kleidung wird er für einen Grafen gehalten. Obwohl der Irrtum nach einiger Zeit auffliegt, bringt es der Schneider zu materiellem Wohlstand. Vordergründig hat sich der Glaubenssatz „Kleider machen Leute“ bewährt. Doch die tieferliegende Botschaft weist uns darauf hin, sich nicht von Oberflächlichkeiten blenden zu lassen. Antoine de Saint-Exupéry hat dies wundervoll auf den Punkt gebracht “Man sieht nur mit dem Herzen gut.” Sikhi legt Wert auf Stimmigkeit. Inneres und Äußeres gehen Hand in Hand. Die innere Würde zeigt sich im würdevollen Erscheinungsbild. Sikhi inspiriert zu einer ganzheitlichen und einheitsstiftenden Lebensweise, die geprägt ist von dem Mut, gegen vergängliche Trends und den Strom schwimmen zu können. Sikhs sind sich bewusst, dass allein die Tiefe seelischer Erkenntnis mit uns geht, wenn wir den Körper hinter uns lassen. Daher gilt in der Sikhi: “Haltung machen Leute, nicht Kleider.” Credits: Unsplash

Wir sind mehr als unsere soziale Identität

Khushwant Singh ist Vorsitzender des Rates der Religionen in Frankfurt. Fanatismus ist ihm zuwider, dabei hat er Intoleranz am eigenen Leib erfahren. Nun bringt er die Religionen an einen Tisch.

Der Hassprediger Pierre Vogel ist in Frankfurt „persona non grata“. Das hat die Ordnungsbehörde mit ihrem Verbot der Kundgebung zum wiederholten Male klargemacht. Das macht aber auch ein Gremium klar, das für neun Religionsgemeinschaften in der Mainmetropole spricht: Der Frankfurter Rat der Religionen. Wir haben uns mit dessen neuem Vorsitzenden Khushwant Singh getroffen. Er arbeitet für die Bundesregierung und ist Angehöriger der Sikh-Religion, der fünftgrößten Weltreligion.

In Indien sind die Sikhs eine religiöse Minderheit, die in den 80er Jahren viel Intoleranz erfahren haben, erzählt Singh. „Meine Eltern haben Indien deshalb verlassen und später in Deutschland Asyl beantragt.“ Weil sie keinen Aufenthaltstitel hatten, durften sie nicht arbeiten. Sie warteten und warteten. Etwa zehn Jahre ging das. Die Kinder übersetzten für den Vater die Anhörungen. Dann kam der Abschiebungsbescheid.

Khushwant Singh ging gerade in die fünfte Klasse und war eigentlich zu jung, um zu begreifen, was da um ihn herum passierte. Als Kinder seien sie in der kleinen Gemeinde am Rand der Eifel sehr gut integriert gewesen. „Die Omis liebten uns.“ Über Kontakte zur Kirche und eine Sendung im Regionalfernsehen entwickelte sich eine Unterstützerkampagne.

Mit Erfolg: Die Ausländerbehörde erteilte aus humanitären Gründen ein Bleiberecht. Die Auflagen: Sein Vater, der zuvor zehn Jahre lang weder arbeiten durfte noch Sprachunterricht bekommen hatte, musste binnen sechs Monaten eine Arbeit finden. „Das war nicht einfach. Mein Vater trägt wie ich einen ungeschnittenen Bart und Turban.“

Beschimpfungen nach dem 11. September

Dennoch sei ihm ab diesem Moment klar gewesen, dass er und seine Familie anders seien. „Meine Geschichte konnte ich nicht wirklich mit den Schulkameraden teilen.“ Khushwant Singh las viel: Romane, philosophische Bücher und über Religion. „Ich habe als Kind schon versucht, ein frommes Leben zu führen.“ Über Kassetten hörte er sich religiöse Vorträge an.

Der nächste Schlag folgte mit dem 11. September 2001. Singh und andere Sikhs sahen sich zunehmend konfrontiert mit Beschimpfungen wie „Scheiß-Taliban“, „Bin Laden“ oder „gleich geht die Bombe hoch“. „Das war nicht nur in Deutschland so. Diese Diskriminierung war global.“ Es war nach der Vertreibung der Eltern, über die er nur von Erzählungen und Büchern wusste, bereits die zweite Erfahrung damit, was religiöser Fundamentalismus hervorrufen kann. Unkontrollierte Reaktionen gegen alles, was auch nur äußerlich fremd erscheint.

Khushwant Singh studierte damals Ethnologie und Pädagogik in Heidelberg. Auch in der Hoffnung, mehr Toleranz zu finden, ging er nach London, um Sozialanthropologie zu studieren. „Im Studium habe ich gelernt, mich selbst zu reflektieren“, sagt er. ‚Benutze nie ein Wort, das du nicht verstehst’, habe eine Dozentin damals zu ihm gesagt. Er ist ihr bis heute für diesen Rat dankbar.

Hier liege seiner Ansicht nach heute das Problem. Es gebe Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt fühlen. Zugleich seien einige auch in der Religion orientierungslos. „Weil sie niemanden haben, der ihnen fundiert sagen könnte, worum es bei Religion eigentlich geht, rennen sie zu Salafisten oder Radikalen wie Vogel. Sie fühlen sich nicht willkommen, und er bestätigt ihnen mit seinen Schwarz-Weiß-Antworten genau das.“

Religion – die komplexeste Angelegenheit des Universums

Khushwant Singh glaubt, dass die Religionen mehr dafür tun müssen, um Jugendliche zur Reflexion zu ermuntern. Diese müssten lernen, sich mit sich selbst und Traditionen auseinanderzusetzen. Das sei ihm für seine Arbeit beim Rat ein wichtiges Ziel. Mit der Anne Frank-Schule hätten sie deshalb ein Projekt gestartet, um „das Gute in der Religion“ zu zeigen. Staat und Gemeinden seien beide in der Pflicht, mehr für den Jugendunterricht zu tun. „Wer über eine umfassende religiöse Orientierung verfügt, den sehe ich in der Verantwortung, zu unterrichten – auch auf Deutsch.“

Was aber macht aus seiner Sicht Religion aus? „Religion ist die komplexeste Angelegenheit des Universums“, sagt Khushwant Singh. Oder: „Spiritualität ist nach innen gerichtet – und wirkt doch immer auch nach Außen.“ Er sagt auch andere Sätze wie: „Religion hat mit Wollen und nicht mit Dürfen zu tun.“ Oder: „Wir sind mehr als unsere soziale Identität.“ Er sagt aber auch: „Mir ist wichtig, dass man – unabhängig vom Hintergrund – offen miteinander spricht. Nicht Kleider machen Leute, sondern Haltung.“

Quelle

www.welt.de, veröffentlicht am 03.09.2013, von Stefan Röttele

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