Von Entfremdung und Orientierung: Religiöse Unterweisung der Sikhs in Deutschland
Religiöse Unterweisung in der zweiten Generation der Sikhs in Deutschland
„Sikhi ist ja cooler als ich dachte!“, „In der Schule sagen sie, ich hätte einen Döner auf dem Kopf.“ (Zitate von Schülerinnen und Schülern des Sikh-Religionsunterrichts im Frankfurt)
Religiöse Unterweisung spielt in allen bedeutenden Religionen eine zentrale Rolle. Sie besteht aus dem Vorleben bestimmter Haltungen sowie der schriftlichen und mündlichen Weitergabe religiöser Einsichten und Praktiken. Das Leben vieler Menschen verändert sich jedoch stetig durch technische Entwicklungen, Migration und Globalisierungsprozesse. Indem der Grad an Individualität und Pluralismus wächst, verändert sich auch das Verhältnis zur Religion sowie ihrer Tradierung. Am Beispiel der Sikh-Religion, im Original als „Sikhi“ bekannt, wird exemplarisch gezeigt, welchen Herausforderungen vor allem Sikhs der zweiten Generation in Deutschland beim Erwerb religiöser Inhalte begegnen. Dabei werden historische Aspekte religiöser Tradierung sowie gesellschaftliche Herausforderungen der Sikh-Gemeinschaft beleuchtet.
Entstehung religiöser Überlieferungen
In den verschiedenen Religionen haben sich unterschiedliche Unterweisungsstile und Tradierungsverständnisse entwickelt. In der Regel spielen Schriften und religiöse Lehrer eine entscheidende Rolle, da ihnen eine herausgehobene Autorität zuerkannt wird. Sie vermitteln Inhalte und Praktiken, die auf einen oder auf mehrere religiöse Verkünder und deren Anhänger zurück gehen. Zugleich sind Lehrer Wächter und (Neu-)Interpreten der Überlieferungen in einem spezifischen historischen Kontext.
Je nach kulturellen, sprachlichen, geographischen, wirtschaftlichen und technischen Einflüssen sowie Interessen der Religionsbewahrer und -anhänger entwickelten sich die Religionen und ihre Tradierungsformen auf charakteristische Weise. Auch Kriege und Missionierung spielen bei der Verbreitung und Entwicklung von Religionen und religiösen Tradierungsformen bis heute eine Bedeutung. Da in vielen Fällen die Einsichten der Religionsbegründer nicht persönlich niedergeschrieben, sondern überwiegend mündlich weiter gegeben wurden, entstanden erst im Laufe der Zeit durch Verschriftlichung, Kommentierung sowie Kanonisierung kodifizierte Doktrinen. Es entwickelten sich unterschiedliche, teilweise auch konkurrierende religiöse Interpretationen und Schulen – auch dort, wo die Begründer mit Bedacht auf dogmatische Auffassungen und Abgrenzungstendenzen verzichteten. In einigen wenigen Fällen, wie bei dem Weisen Gur Nanak und seinen neun Nachfolgern, den Stiftern der Sikh-Religion, hielten die Begründer bereits zu Lebzeiten ihre Einsichten schriftlich fest.
Religionsunterricht durch Lehrer
Im Allgemeinen ist intellektuell geprägter Religionsunterricht in institutionalisierter Form von vorgelebter Unterweisung durch einen Weisen zu unterscheiden. Beim Unterricht ist die Person des Lehrers eher sekundär. Das Wissen und das Studium des Stoffes dominieren. Grundlage des teilweise verpflichtenden Unterrichtes ist ein auf der Theorie des Lehrens und des Lernens aufgebauter Lehrplan mit Lernzielvorgaben. Bisweilen wird diese Form politisch privilegiert. Ein Beispiel ist der christliche Religionsunterricht an deutschen Schulen, der auf die Katechese zurückgeht. In allen Bundesländern mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ist Religionsunterricht nach dem Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3, ordentliches Lehrfach.
Unterweisung durch weise Menschen
Die Unterweisung durch einen Weisen nimmt einen besonderen Platz in den antiken mystischen Traditionen ein. Auch in den bis heute einflussreichen Weltreligionen wie dem Buddhismus oder der Sikh-Religion spielt das Meister-Schüler-Verhältnis eine zentrale und jeweils spezifische Rolle. Bei der Unterweisung ist neben der Vermittlung religiöser Einsichten der Vorbildcharakter des Meisters bedeutsam. Hier stehen Schüler und Meister in einem engen Verhältnis. Die Schüler sind neben der Erlangung von umfassendem religiösem Wissen vor allem bestrebt, die vorgelebte Lebensweise ihres Meisters zu verinnerlichen. Anders als beim Lehrer-Schüler-Verhältnis steht beim persönlich geprägten Meister-Schüler-Verhältnis Weisheit im Fokus. Während ein Lehrer eher versucht Fakten und Werte zu vermitteln, geht es einem Meister darum, die Schüler so individuell anzuleiten, dass diese durch praktische Erfahrungen selbstständig zu inneren Einsichten gelangen. Ausgangspunkt ist nicht ein vorher gesetztes Lernziel oder Glaubenskodex, sondern der Entwicklungsstand der Schüler. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Weisheiten, die der Meister in sich trägt, nicht ohne weiteres weitergegeben werden können. Der Meister spielt eher die Rolle eines ermöglichenden Helfers. Entsprechend finden sich kaum curricular aufbereitete Inhalte bei der Unterweisung, sondern es dominieren Metaphern, Gleichnisse und Dialoge, die zeitlos wirken.
Der Weise Gur Nanak und die Sikh-Religion
Ein bedeutender Vertreter der Meister-Schüler-Beziehung war der Weise Gur Nanak (1469–1539). Die auf ihn maßgeblich zurückgehende Sikh-Religion gilt heute mit über 25 Millionen Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen, als fünftgrößte Weltreligion. Der Religion liegt eine religionsübergreifende, Einheit stiftende und zugleich Pluralität wahrende spirituelle Lebensweise zu Grunde. Die Inhalte zeugen von einer intensiven Beschäftigung mit den unterschiedlichsten religiösen Traditionen. Unter anderem finden sich Bezüge zu Überlieferungen, die dem Brahmanismus, Vaisnavismus, Saivismus, Yoga, Siddhismus, Jinismus, Sufismus und Islam zugeordnet werden. Dabei werden die Vorstellungen dieser Traditionen aber immer im Lichte der Einsichten der Weisen spirituell reinterpretiert.
Das Leben sowie die bis heute erhaltenen Originalkompositionen von Gur Nanak, der von seinen Schülerinnen und Schülern, den Sikhs, respektvoll „Gur“ (Weiser, Erleuchteter) genannt wird, legt Zeugnis von einem besonderen Meister-Schüler-Verständnis ab. Dabei stehen Gur Nanak und seine neun Nachfolger ursprünglich für eine weisheits- und sozialorientierte Tradition, bei der das Verhältnis zwischen der Weisheit in Schriftform, und dem Schüler eine herausragende Bedeutung erhält. Die zehn Meister sehen sich dabei nicht als Gurus, sondern als Diener der Schöpfung, durch die die Weisheit des einen allumfassenden und unbegreiflichen Schöpferwesens in poetischer Form spricht. Heute dominiert allerdings oft ein eher dogmatisches und ritualisiertes Religionsverständnis, auch in deutschsprachigen Ländern. Dies hat komplexe Gründe.
Religiöse Entfremdung durch Invasion und Kolonisierung
Die Sikhs blicken auf eine äußerst ereignisreiche und mitunter sehr gewalttätige Geschichte zurück. Die junge Religion konnte sich ab dem 15. Jahrhundert zu Zeiten der ersten Weisen unter weitgehend friedlichen Bedingungen entwickeln. Die nachfolgenden zwei Jahrhunderte wurden jedoch von zunehmender Diskriminierung durch brahmanisch dominierte lokale Hindu-Eliten sowie Verfolgung durch muslimische Invasoren geprägt. Nicht nur das ausgesprochen eigenständige Selbstverständnis der Sikhs stieß auf Misstrauen. Vor allem die scharfe Kritik am Kastensystem, an der Vormachtstellung brahmanischer Priester und Unterdrückung von Frauen sowie an den extremistischen Tendenzen der islamischen Eroberer schürten die Feindseligkeiten gegenüber der Minderheit der Sikhs. In Verteidigungsschlachten, in welche die späteren Weisen verwickelt waren, starben nicht nur viele tausend Sikhs. Es gingen auch bedeutsame Originalmanuskripte verloren. Der fünfte und neunte Weise wurden auf Befehl der Mogulherrscher Jahangir und Aurangzeb ermordet. Der zehnte Weise Gur Gobind Singh verlor alle vier Söhne und starb im Jahr 1708 an den Folgen eines Attentates.
Während der Kriegswirren, bei denen die Sikhs sich immer wieder in den Untergrund begeben und ihre Gemeindezentren verlassen mussten, stockte auch die Tradierung religiöser Inhalte. Da die junge Religion ihrem Wesen gemäß einen qualitativen Ansatz verfolgte, dem Missionierung fremd war, traf sie die Verfolgung zahlenmäßig besonders hart. Bereits nach dem Tode des zehnten und letzten Weisen und insbesondere im Zuge der Gründung des vermeintlichen Sikh-Reiches im Gebiet des Panjab durch Ranjit Singh im Jahr 1799 war eine erhebliche Entfremdung von den ursprünglichen religiösen Einsichten zu beobachten. Diese verstärkte sich zusehends nach dem Verfall des Reiches. Im Jahr 1849 wurde der Panjab durch die britische Kolonisatoren annektiert. Inzwischen hatten die Sikhs weitgehend die Kontrolle über ihre religiösen Schulstätten (Gurdwara) verloren. So wurden beispielsweise hinduistische Götterstatuen in die Gurdwara gebracht und verehrt sowie Verse gegen Bezahlung rezitiert. Diese Praxis sowie andere ritualisierte und professionalisierte Formen der Religionsausübung standen und stehen im deutlichen Gegensatz zu den Einsichten der Begründer. Obwohl die Religionsstifter ihre originären Einsichten sowie die anderer Weisen (Bhagat und Bhatt) in dem 1430seitigem Werk „(Adi) Guru Granth Sahib“ zusammen fassten, fehlte es an frommen und gelehrten Sikhs, die die Inhalte hätten angemessen verstehen, einordnen und weitergeben können. Erst gegen 1873 nahmen Sikhs wieder den Versuch auf, sich auf ihre Ursprünge zu besinnen. Allerdings führten komplexe koloniale Interdependenzen zu weiteren Verwerfungen. Diese mündeten einerseits in einem mitunter einseitigen Tradierungsverständnis, welches zunehmend von festgelegten Curricula und einem fixierten Verhaltenskodex geprägt wurde. Zudem entstanden bis heute einflussreiche Kommentierungen und englische Übersetzungen des „Adi Guru Granth Sahib“, mit hinduistischen und christlichen Konnotationen. Andererseits bildeten sich gegenläufige Gruppen, die die enge Beziehung zwischen der Schrift und der Schüler sowie das Gebot der Schlichtheit weiter zugunsten eines pompösen Personenkultes und profitorientierten ritualisierten Religionsverständnisses umdeuteten.
Sikhs in Deutschland – Desillusionierung in der ersten Generation
Seit der Teilung Indiens im Jahr 1947 und später in den 1980er Jahren verließen viele Sikhs aufgrund politischer Unruhen ihre Heimatregion und wanderten aus. In Großbritannien, Nordamerika und Australien leben heute insgesamt über zwei Millionen Sikhs. Sie verfügen dort in bestimmten Metropolen über eine sichtbare religiöse und politische Lobby. In Deutschland, ähnlich wie auf dem restlichen Festland Europas, ist die Sikh-Religion kaum bekannt. Nur wenige Menschen wissen einen Mann, der einen wallenden, ungeschnittenen Bart und einen kunstvoll gebundenen Turban trägt, als Sikh einzuordnen. Zum einen liegt es an der relativ geringen Zahl der Sikhs, zum anderen kommen die Sikhs erst in den letzten Jahren verstärkt in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft an und sind allmählich in der Lage, sich entsprechend zu artikulieren.
Viele Sikhs, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland immigriert sind, haben Asylverfahren durchlaufen. Waren es in den 1970er Jahren nur einige hundert Sikhs, leben heute schätzungsweise mehrere zehntausend Sikhs im deutschsprachigen Raum. Wie auch in anderen deutschen Ballungszentren verfügt die erste Generation der Sikhs im Rhein-Main Gebiet über ein geringes Bildungsniveau und stammt vornehmlich aus ländlichen Gebieten im Panjab. Viele von ihnen haben sich aufgrund der instabilen rechtlichen Perspektive, fehlender legaler Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen weder sprachlich noch gesellschaftlich wunschgemäß integrieren können. Die inzwischen über 60-Jährigen der ersten Generation sind zum Teil gekennzeichnet durch Frustration und dem Gefühl der Ausgrenzung. Damit einher geht ein Autoritätsverfall dieser Elterngeneration, die es gewohnt war, ein Familienleben entsprechend der patriarchalisch dominierenden Vorstellungen im ländlichen Panjab zu führen. Ihre in der Regel sehr gut integrierten und fließend Deutsch sprechenden Kinder hinterfragen die althergebrachten Einstellungen, die ihnen teilweise überholt erscheinen.
Eltern, die die Möglichkeit hatten zu arbeiten, waren wiederum oft so mit existenzsichernden Aktivitäten befasst, dass sie nur wenig Zeit für die schulische und religiöse Bildung ihrer Kinder aufbringen konnten. Die Kinder haben sich dann entsprechend wenig mit ihren religiösen und kulturellen Wurzeln befasst und sich in Richtungen entwickelt, die die Eltern als „enttäuschende Fehlentwicklung“ ansehen.
Desorientierung in der zweiten Generation
Weltweit ist vor allem in der zweiten Generation vielen Sikhs eine religiöse Verunsicherung gemeinsam. Auch im Rhein-Main Gebiet sind Sikhs mit internen und externen Herausforderungen im Hinblick auf ihre Religion konfrontiert. Allmählich sind aber Sikh-Jugendliche, insbesondere junge Mädchen, hervorragend in der Lage, die verschiedenen Lebenswelten in Einklang zu bringen. Auffällig ist, dass sie sich nur dann nicht heimisch fühlen, wenn sie Ausgrenzung in der Schule oder bei der Arbeitssuche erfahren. Gleichwohl hat sich eine hohe Frustrationsgrenze gegen Diskriminierungen entwickelt. Viele Schüler zeigen überdurchschnittlich gute Schulleistungen.
Der religiöse Bildungsstand ist allerdings gering ausgeprägt. Ein Grund sind mangelnde institutionalisierte Formen des Religionsunterrichts über „Sikhi“. Zudem gibt es kaum jugendgerechte religiöse Literatur in deutscher Sprache. Junge Sikhs berichten durchgängig, dass sie nur schwer in der Lage sind, Mitschüler und Lehrer fundiert über ihre Religion zu informieren. Fragt man manche Sikhs der Oberstufe, warum sie ihr Haar ungeschnitten lassen und einen Turban tragen, kommt oft nicht die Erklärung, dass sie dadurch der Tradition entsprechend ihre natürliche und würdevolle Lebensweise und ihren Respekt für die Schöpfung ausdrücken. Stattdessen werden einsilbige Sätze wie „Das ist wegen der Religion“ oder „Das muss ein Sikh machen“ vorgetragen. Aufgrund fehlender Kenntnisse fühlen sich die Jugendlichen auch kaum in der Lage, falsche Informationen über die Sikh-Religion, auf die sich Lehrer oder Mitschüler aus Unwissenheit berufen, zu korrigieren. Umso rhetorisch hilfloser stehen männliche Sikhs da, wenn sie wegen ihrem Dutt und der Kopfbedeckung mit Sprüchen wie „Der hat einen Döner auf dem Kopf!“ oder „In Deckung! Da kommt Osama“ beleidigt werden.
Gründe für die Desorientierung
Die Elterngeneration bemüht sich zum Teil trotz der vielfältigen Herausforderungen, die Migration mit sich bringt, bestmöglich um die schulische und religiöse Ausbildung ihrer Kinder. Gleichwohl wissen sie selbst nur wenig über deutsche Institutionen und ihre Religion. Und das obwohl viele Sikhs seit Jahrzehnten regelmäßig in den Gurdwara gehen und diese durch Spenden finanzieren. Engagierte Sikhs der zweiten und inzwischen dritten Generation sind daher mit dem Problem konfrontiert, dass sie widersprüchliche Erklärungen zu religiösen Fragen bekommen. Dies betrifft nicht nur Inhalte, die im Gurdwara – oft auch durch aus Indien angereiste Sprecher – vermittelt werden. Auch die Antworten, die junge Sikhs in ihren Familien, im Internet und über Sikh-Fernsehsender bekommen, erscheinen ihnen oft unbefriedigend und inkonsistent. Hier spielen auch die Langzeitwirkungen der bereits dargestellten historischen Gründe der religiösen Entfremdung eine Rolle.
Vor allem interessierte Jugendliche beklagen die mangelhafte Vermittlungsleistung religiöser Inhalte und Werte in den Gurdwara. Ein generationenübergreifendes Angebot mit einem Bezug zum Leben in Deutschland wird vermisst. Inzwischen herrscht unter jungen Sikhs in vielen Ländern die Wahrnehmung, dass die Schulstätten von religiös fragwürdigen Auslegungen und politisierten Debatten sowie Führungsstreitigkeiten beherrscht werden. Die religiös und schulisch wenig gebildeten Verantwortlichen der Gurdwara, die überwiegend aus der ersten Generation stammen, seien vor allem von machtpolitischen und finanziellen Interessen sowie Seilschaften geleitet, so die Meinung junger Sikhs. Sie würden, so die Einschätzung von in Deutschland aufgewachsenen Sikhs, ihren Asylhintergrund trotz veränderter Realitäten für politische Zwecke instrumentalisieren. Die vermehrte Zuwanderung von Arbeitsmigranten, die an den religiösen Inhalten und Traditionen kaum interessiert sind und wohl eher aus sozialen und kulinarischen Gründen in großer Anzahl die Gurdwara besuchen, steigert die ohnehin vorhandene Unzufriedenheit unter praktizierenden jungen Sikhs.
Fehlende Vorbilder
Insgesamt kann festgestellt werden, dass überzeugende Vorbilder in den nachfolgenden Generationen noch fehlen, die weltlich und zugleich religiös gut gebildet sind, die ihre Religion im Alltag ausüben und die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen und auf Panjabi besitzen. Auffällig ist, dass sich die wenigen erfolgreichen und frommen Sikhs, die zudem in der Lage sind, Verse in Begleitung von Instrumenten zu rezitieren, zusehends privat für den religiösen Austausch treffen. Sie begründen dies mit den oben beschriebenen Unzulänglichkeiten in den Gurdwara sowie ritualisierten und kapitalisierten Formen der Religionsausübung. Zwar können Sikhs inzwischen im Internet auf ein sehr vielfältiges Angebot an religiösen Texten, Videos und Audiobeiträgen zurückgreifen und sich vernetzen. Allerdings kann das unübersichtliche zumeist englische oder panjabische Angebot ohne angemessene Filterung und Kommentierung Orientierungslosigkeit verstärken oder gar hervorrufen. Insbesondere dann, wenn religiösen aber auch politischen Inhalten vertraut wird, die aufgrund mangelnder Kenntnis inhaltlich fragwürdig sind.
Neue Unterrichtsform mit Unterweisung
Um die historisch und durch die Migrationserfahrung herleitbare Entfremdung zu überwinden, sind innovative Formen der religiösen Tradierung notwendig, die sich von den ursprünglichen Einsichten leiten lassen. Das ehrenamtliche Angebot der „Religiös orientierten Lebenskunde“, die der Autor im Frankfurter Gurdwara für junge Sikhs und Interessierte an ausgewählten Sonntagen anbietet, versucht diesem Anspruch näher zu kommen. Das Konzept entspricht einer Mischung aus freiwilligem Unterricht und Unterweisung in der Altersklasse von zehn bis etwa 20 Jahren. Dabei werden nicht primär Fakten vermittelt, sondern ausgehend von den Interessen und Kenntnissen der Schülerinnen und Schüler Inhalte ganzheitlich diskutiert, hinterfragt und eingeordnet. Der Grundton besteht aus herausfordernden Inhalten und Methoden sowie spontanen, humorvoll angelegten Übertreibungen, die zum nachfühlen und denken anregen. Der Unterricht ist dabei bemüht, weniger Antworten vorzugeben und stattdessen persönliche Einsichten zu fördern sowie eine Grundorientierung für den Alltag mitzugeben. Insgesamt wird versucht, die religiösen und historischen Kenntnisse und das Selbstbewusstsein der Schüler ausgehend von aktuellen Realitäten zu stärken.
Alle Inhalte werden aus den schriftlich festgehaltenen Weisheiten der Begründer abgeleitet und vereinfacht erklärt. Dabei werden auch immer Bezüge zu Schulfächern wie Geschichte oder Biologie hergestellt. Um die inhaltliche und sprachliche Übersetzungsfähigkeit zu fördern, wird der Unterricht zweisprachig auf Deutsch und auf Panjabi gehalten. So lernen die Jugendlichen etwa, dass die Bezeichnung „Götter“ für die „Weisen unangebracht ist. Gleichzeitig werden wichtige Begriffe in der Sikh-Schrift „Gurmukhi“ sowie Fremdwörter visualisiert. Videos und Comics lockern den Unterricht auf und helfen auch jüngere Kinder anzusprechen. Auch werden alltägliche Herausforderungen wie Diskriminierung in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt besprochen. Interessante Besucher wie der wohl älteste Marathonläufer der Welt Fauja Singh dienen als Inspiration. Zusätzlich zum Unterricht werden Jugendcamps organisiert, die von Sikhs aus den verschiedensten Ländern geleitet werden. Dadurch sollen Netzwerke und die Teamfähigkeit gestärkt, Freundschaften aufgebaut und respektvolle Lernarrangements jenseits von alltäglicher Routine gefördert werden.
Unterrichtserfolge
Im Ergebnis ist zu vermerken, dass die meisten Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht besuchen, ein Grundinteresse an ihrer Religion haben und die partizipative Lernform begrüßen. Vor allem einige Schülerinnen sind sehr engagiert. Sie sind nach eigenen Aussagen durch den Unterricht selbstbewusster geworden. Viele haben sich erstmalig genauer mit „Sikhi“ und Themen wie Gleichberechtigung, Schönheit, Namenstradition oder Kastensystem auseinandergesetzt und mit anderen Jugendlichen darüber diskutiert. Auch verstehen die meisten Schüler nun, dass ihre Religion nicht wie gepredigt, auf Regeln und das Äußerliche zu reduzieren ist, sondern vor allem tiefgründige spirituelle Weisheiten enthält, die für existentielle und alltägliche Fragen Orientierung bieten. Manche Schüler bemerken, dass „Sikhi“ doch „cooler“ ist, als sie dachten. Die religiösen Inhalte bieten zudem Argumentationshilfen, wenn sich bspw. Mitmenschen oder Familienmitglieder unangemessen verhalten. Gleichwohl hat dies im Einzelfall zu Diskussionen in der Familie geführt, weil kulturelle Traditionen durch die Kinder auf Basis religiöser Einsichten in Frage gestellt wurden.
Herausforderungen
Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass der beschriebene Unterricht die Lösung für die zuvor beschrieben Herausforderungen darstellt. Vielmehr handelt es sich um einen bescheidenen Versuch der Verbesserung, der migrationssoziologisch und biografisch verortbar ist. Die freiwillige Unterrichtsform stößt an zahlreiche Grenzen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass nur ein Bruchteil der Jugendlichen den Unterricht besucht. Die Klassenstärke reicht im Schnitt von zehn bis 25 Schüler. Die hohe Altersspanne sowie das sehr unterschiedliche inhaltliche und sprachliche Niveau erfordern einen Spagat zwischen Unter- und Überforderung. Der vorhandene Raum ist nicht ausreichend ausgestattet. Aufgrund mangelnder Isolierung herrscht in dem Gebäude ein enormer Lärmpegel. Teilweise werden die Räume während der Unterrichtszeit von Erwachsenen belegt, die sich unterhalten, oder von ehrenamtlich tätigen Müttern, die kleinen Kindern engagiert die Gurmukhi-Schrift beibringen. Von Seiten der Leitung des Gurdwara wird der Unterricht gutgeheißen aber kaum aktiv gefördert oder beworben. Auch zeigen nur manche Eltern ein tiefer gehendes Interesse am Unterricht ihrer Kinder.
Vor allem unter den männlichen Schülern herrscht ein hohes Ablenkungspotential z.B. durch Handys. Zudem ist ein erheblicher Gruppenzwang erkennbar. Entscheidet sich ein tonangebender Jugendlicher gegen den Unterricht, so bleibt die ganze Clique abwesend. Die Schüler kommen und gehen in der Regel gemeinsam mit ihren Eltern. Sind diese verhindert, bleiben auch die Kinder dem Gurdwara und dem Unterricht fern. Verlassen die Eltern den Gurdwara frühzeitig, werden sie von den Kindern begleitet. Die Fluktuation unter den anwesenden Schülern macht ein kontinuierliches Arbeiten unmöglich und produziert Unruhe. Anvisierte Projekte wie z.B. ein Video-Theaterstück zu intergenerationellen Fragen konnten nicht abgeschlossen werden.
Fazit
Diese kursorische Darstellung zeigt, dass sich die Sikhs nach einer langen Periode der historisch bedingten Entfremdung nun in einer Phase des Suchens befinden. Migration und technische Entwicklungen wie das Internet eröffnen dabei bisher nicht dagewesene Freiräume. Gleichzeitig bergen sie auch Risiken, die durch zeitgemäße Unterrichtsformen, die sich an den ursprünglichen Weisheiten der Begründer orientieren, reduziert werden können. Dabei ist es wichtig, bereits eingeübte und etablierte Praktiken sowie Führungsstile in den Gurdwara so weiterzuentwickeln, dass traditionelle Vorgehensweisen mit neuen sinnvoll ergänzt werden und die Unterstützung der Gemeinschaft erhalten. Hier werden gut ausgebildete und in Deutschland aufgewachsene religiöse Vorbilder in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Gesellschaftlich muss es besser als bisher gelingen, die vielfältigen Potentiale von zugewanderten Religionsgemeinschaften zu fördern – auch in den Schulen. Dabei ist eine visionsgeleitete gegenseitige Willkommenskultur, die konsequent gegen diskriminierende und stereotypisierende Verhaltensweisen vorgeht, unerlässlich.
Quelle
Der Text basiert auf folgender Publikation: Singh, Khushwant. 2011. Von Entfremdung und Orientierung – Religiöse Unterweisung in der zweiten Generation der Sikhs in Deutschland, Hrsg.: Hessische Landeszentrale für politische Bildung – Mechtild M. Jansen, Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main – Helga Nagel. Religion und Migration. Signale der Veränderung: Rückblick - Ausblick - Perspektiven. Wiesbaden: Text und Strich, S. 54 – 63.