Sikhs in Frankreich: Sie sehen unseren Turban, aber hören uns einfach nicht!
Sikhs in Frankreich und Deutschland sehen sich im Abseits des öffentlichen Diskurses um religiöse Symbole
Es ist frühmorgens im Gurdwara Singh Sabha Paris. Die Gebetsstätte der Sikhs im Pariser Vorort Bobigny füllt sich allmählich mit Leben, einige bärtige Männer mit Turban sitzen im Gebetsraum und hören religiöse Gesänge und Exegese. Die Stimmen kommen aus dem Lautsprecher: Satellitengesteuerte Übertragung des Londoner Panjab Radio, dessen Sendungen seit etwa 3 Jahren in den Wohnzimmern und Gemeindezentren der europäischen Sikhs Widerhall finden, für Musik, Gesprächsthemen, und eine Aura der Zugehörigkeit und Aktualität sorgen. Das Radio ist für die kleine Pariser Sikhgemeinde ein wichtiger Bezugspunkt geworden, findet ihr Leben doch weitgehend im Versteck statt, in einer Seitengasse des banlieu, weitgehend unbemerkt von der französischen Öffentlichkeit. Die Ausrichtung der Antennen über den Ärmelkanal bietet dagegen Partizipationsmöglichkeit und Anbindung an ein transnationales Netzwerk. Die mediale, transnationale Anbindung ist, wie dieser Tag verdeutlicht, mehr als nur imaginär: sie verstärkt und kanalisiert Kommunikationsformen, ermöglicht neue Kontakte und Begegnungen. Und sie mobilisiert Menschen. Vergangene Woche noch verkündeten die Sprecher von Panjab Radio, dass man sich mit den in Frankreich lebenden Sikhs verbünden müsse. Ebenso wie Kopftuch tragende Muslime vom Verbot religiöser Symbole an französischen Schulen betroffen sind, sehen sich vor allem die männlichen Sikhs, die ihre ungeschorenen Haare unter einem Turban gebunden halten, von staatlicher Ausgrenzung betroffen. Am heutigen Samstag sind mehr als 10 Reisebusse aus Belgien, Deutschland, Großbritannien, und Italien auf dem Weg nach Paris. In wenigen Stunden werden sie eintreffen und man wird sich zur ersten öffentlichen maniféstation der Sikhs in Frankreich in der Pariser Innenstadt zusammenfinden – eine Woche vor der Verabschiedung des "Kopftuch" Verbotes an französischen Schulen.
Im Gurdwara gehen unterdessen die Vorbereitungen weiter. Die Gemeindeküche im Souterrain ist von Tee- und Pakora-Düften erfüllt, aus dem Nebenraum erklingt das blecherne Klappern von Tellern und Tassen – mehrere hundert Gäste müssen verköstigt werden. Freie Kost und Logis gelten als eines der Grundprinzipien der Sikh Religion. Wir sitzen am Boden, trinken Gewürztee und beobachten wie sich mehr und mehr Menschen zu uns gesellen. Gurinder Singh (Anmerkung: alle Namen im Artikel geändert), ein junger, in Frankreich geborener Sikh, der maßgeblich an der Organisation der heutigen Kundgebung beteiligt ist, kommt auf uns zu und freut sich zwei jungen Wissenschaftlern aus Deutschland Auskunft zu erteilen. Seit einigen Monaten schon beobachten wir die Sikhs und haben das "Teeritual" als gute Gelegenheit kennen gelernt, um ins Gespräch zu kommen.
Das Problem der falschen Identifikation
Gurinder erzählt von seinen persönlichen Motiven auf die Straße zu gehen: "Wir versammeln uns heute, um der französischen Regierung zu zeigen, dass es uns gibt. Wir haben eine Würde und wir wollen unseren Turban tragen. Es gibt überhaupt keinen Grund ihn nicht zu tragen, weder sind wir anti-christlich eingestellt, noch sind wir Terroristen. Wir sind eine kleine Gemeinde von 7-8000 Sikhs und haben anderweitig kaum eine Möglichkeit, Druck auf die Regierung auszuüben, sie hören uns einfach nicht." Eines der Hauptanliegen des heutigen Tages, so wird hier deutlich, liegt einerseits darin Differenz zu betonen, sich von Muslimen abzugrenzen und als eigenständige religiöse Gruppierung wahrgenommen zu werden. "Immer wenn ich unterwegs bin, kommen Leute auf mich zu, die mich als Muslim beschimpfen oder mich mit Asalam Aleikum grüßen, aber ich bin nun mal kein Muslim." Das Problem der falschen Identifikation haben Sikhs nach der Tragödie des 11. September besonders schmerzlich erfahren. Ein amerikanischer Sikh musste mit dem Leben bezahlen. Auf der Straße haben die "Bin Laden" Beschimpfungen bis heute nicht abgenommen, die Kombination aus Bart und Turban ist bereits zum Stereotyp islamischen Fundamentalismus geworden, als männliches Gegenstück zum Kopftuch. Gurinder geht es aber nicht allein um Differenzbekundung. Wie die Mehrheit der versammelten Sikhs bezieht er sich auf das Gleichheitsprinzip und die Menschenwürde, denen zu Folge das Recht auf das Tragen religiöser Symbole allen religiösen Gruppierungen zusteht. In einem Nebenraum schreiben einige Jugendliche entsprechende Slogans auf organfarbene Stofftücher: "Religiöse Freiheit ist Menschenrecht."
Gurinder selbst ist Urgroßenkel eines indischen Soldaten, der im ersten Weltkrieg für die französische Armee gekämpft hat. Mit Turban, wie sein gesamtes Regiment. Während der Demonstration wird immer wieder auf diese Einbindung der damaligen "kolonialen Subjekte" verwiesen. Auch eine kürzlich verabschiedete Petition von United Sikhs (www.unitedsikhs.com) verweist auf diesen Zusammenhang. In beiden Weltkriegen, so lautet die Argumentation, haben Sikhs maßgeblich zur Verteidigung der französischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beigetragen. So dienten Turban tragende Sikhs im dreizehnten Kavallerie und achten Infanterie Regiment während des ersten Weltkriegs und nahmen an den kriegerischen Auseinandersetzungen in Ypres, La Bassée, Neuve Chapelle, Festubert, Loos, Givenchy und Somme teil.
Auf die Anfrage beim französischen Innenministerium, wie man sich zur französischen Sikh Gemeinde verhält, erhielten indische Journalisten die verblüffende Antwort: "Was? Bei uns gibt es Sikhs?" Tatsächlich hatte man gar nicht daran gedacht, dass es neben christlichen, jüdischen, und muslimischen noch andere religiöse Gemeinden existieren, die vom geplanten Gesetz potentiell betroffen sind. Entsprechend wurden Sikhs im Vorfeld nicht konsultiert. Nach weiteren Anfragen verständigten sich die Offiziellen auf die Antwort, dass gemäß religiöser Doktrin das Tragen des Turbans nicht zwingend vorgeschrieben ist.
Die Schwierigkeiten mit dem politischen Säkularismus
Die Reaktion verdeutlicht einmal mehr die Schwierigkeit des politischen Säkularismus, religiöse Symbole, und insbesondere deren Vieldeutigkeit, zu verstehen und als Teil der Moderne zu akzeptieren. Dabei ist die Turban Symbolik weit weniger ambivalent als die des Kopftuches. Die offizielle und weithin akzeptierte Dokrin der Khalsa (der vom letzten der historischen Gurus gegründeten heiligen Bruderschaft, die die Sikh Gemeinde als Ganze repräsentiert) fordert von getauften Sikhs das Tragen von fünf religiösen Symbolen, unter denen sich auch das Tragen ungeschorenen Haares (kes) befindet. Auch wenn diese Vorschrift auf den ersten Blick nicht auf den Turban schließen lässt, hat doch die religiöse Tradition über Jahrhunderte hinweg, beginnend mit dem Religionsgründer Guru Nanak (1469), die Verschränkung von ungeschorenen Haares (kes) und Turban (dastar) als quasi äquivalent gesetzt. Guru Nanak als auch seine Nachfolger betonten in ihrer Lehre die Notwendigkeit einer Balance zwischen innerer religiöser Haltung und äußerem Erscheinungsbild.
Religiöse Sikhs sehen ihre Haare als Teil ihres Körpers und drücken durch die Bewahrung dessen ihren Respekt vor dem Schöpfer aus. Das Binden des Turbans ist nicht nur für Männer sondern auch eine wachsende Anzahl von Frauen zu einem integralen Bestandteil religiöser Praxis geworden. Ein Eingriff in diese Praxis in Form eines Turban Verbots an Schulen empfinden Sikhs daher als äußerst entwürdigend und inakzeptabel. "Der Turban ist kein Kleidungsstück, es ist Teil meines Körpers" steht auf einem weiteren Banner.
An französischen Schulen und Universitäten ist die Situation bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes prekär. Besonders gravierend ist der Fall des 19-jährigen K. Singh, von dem wir an diesem Tag immer wieder hören. Er wurde von fünf Universitäten allein auf Grund seines Turbans abgelehnt. "Sie erzählten mir, dass sie einen Platz für mich hätten, aber nur wenn ich den Turban ablegen würde." K. Singh ist einer der wenigen jungen Sikhs, die es so weit geschafft haben. Er stand kurz vor einer Karriere in der IT Branche. Jetzt muss er zusehen, wie er zu einem Studienplatz im Ausland kommt. Vielen Schülern wird es bald ähnlich ergehen. Zwar gab es auch vor dem neuen Gesetz Probleme mit den Schulbehörden, aber es gab auch erfolgreiche Vermittlungen seitens der Sikh Gemeinde, die den Jugendlichen das Tragen des Turbans weiterhin ermöglichte. Schulinterne Regelungen sollen in Zukunft vermieden werden.
Im Gurdwara ist es inzwischen lebhafter geworden. Zwei Busse aus Birmingham und Leicester sind angekommen. Die Reisenden haben sich im Hof eingefunden. Auch der langsam einsetzende kalte Nieselregen hält sie nicht davon ab, sich in Gruppen zusammenzufinden, einander zu begrüßen. Der Lärmpegel schwillt, zum Mix aus Französisch und Panjabi gesellt sich astreines British English. Wir gehen auf eine junge Frau zu und fragen sie nach ihren Erfahrungen als Turbanträgerin in Großbritannien. Amarjit Kaur ist zunächst zögerlich, spricht dann aber äußerst entschieden und selbstbewusst über ihr Anliegen. "Ich arbeite als Krankenschwester in England und kenne die Probleme mit dem Turban sehr gut. Die haben mich mehrmals während des Nachtdienstes nach Hause geschickt … wir haben aber gelernt für unsere Rechte zu kämpfen. Und wir haben Recht bekommen. Wir dürfen den Turban tragen." Obwohl man es ihrem lachenden Gesicht nicht ansieht, findet es Amarjit den Anlass der Zusammenkunft sehr traurig. Aber sie sieht auch eine Chance für die französischen "Brüder und Schwestern," sich an den Erfolgen in Großbritannien ein Beispiel zu nehmen.
Britische Sikhs als Vorreiter zivilgesellschaftlichen Engagements
Die Vorreiterrolle der britischen Sikhs ist unbestritten. Bereits in den frühen 80er Jahren haben Sikhs in einem Rechtsstreit das Tragen religiöser Symbole an staatlichen Schulen durchgesetzt. Eine Novellierung der britischen Schulgesetzgebung von 1988 sorgt nicht nur dafür, dass Sikh Jugendliche der Schuluniform angepasste Turbane tragen. Auch muslimische Kopftücher gehören seit dem Rechtsstreit zur offiziellen Schuluniform. Der britische Fairplay Gedanke gebietet es, dass ein solches Erkämpfen von Rechten gesellschaftlich anerkannt wird. Zudem trifft man in Großbritannien auf eine positive Wertschätzung von Religionsunterricht, der als Pflichtfach dezentral organisiert und besondere Rücksicht auf die jeweiligen Glaubensrichtungen der Schüler nimmt, ohne dabei in einen konfessionellen Unterricht zu münden. Ganz anders in Frankreich: die strikte und demonstrative Trennung von privater Religion und öffentlichem, säkularem Diskursraum soll über das Erziehungsinstrument Schule in einer Weise vermittelt werden, die einer von interkulturellen Lebensrealitäten geprägten französischen Gesellschaft kaum noch gerecht werden kann. Bruno Latour, Professor für Soziologie an der École Nationale de Mines, bemerkt mit Ironie, dass das französische Ideal schulischer Neutralität längst zu einem Deckmantel tatsächlicher Ausgrenzung geworden ist (Frankfurter Rundschau vom 5. Februar 2004). Den Kopftuch tragenden Schülerinnen wird folgende Wahl gelassen, so Latour: "Entweder ihr werdet wahrgenommen, indem ihr Euch verschleiert, dann schließen wir Euch von der Schule aus; oder ihr nehmt das Kopftuch ab und werdet wieder unsichtbar, damit wir euch wieder ausschließen können, weil wir euch ja gar nicht wahrnehmen."
Es ist inzwischen Mittag geworden. Der Frankfurter Bus auf den wir gewartet haben ist eingetroffen und nun sind wir es selbst, die in das allgemeine Willkommensszenario einbezogen werden. Wir fahren zusammen zur Place de la République. Neben mir sitzt der siebenjährige Surjit, der sich sonntags im Tabla Spielen übt und so seine Karriere als zukünftiger Ritualspezialist vorbereitet. Während der Demonstration läuft Surjit mit den anderen Kindern und Jugendlichen in der ersten Reihe. Die Demonstration ist lebhaft und eindrucksvoll. Aber es gibt ein bezeichnendes Bild welches das von Latour angesprochene Wahrnehmungsproblem offenkundig macht: Ein einziges altes Ehepaar steht verlassen am Straßenrand und klatscht Beifall. Während der 2000 Mann und Frau starker Protestzug der Sikhs in Richtung Bastille voranschreitet, finden wir nur wenige Passanten, die stehen bleiben, die verteilten Flugblätter lesen oder anderweitig Interesse zeigen. Es wird gesungen, Slogans werden gerufen, Kameramänner der BBC überholen uns. Die französische Presse ist auch präsent. Sie wird in einem einzigen kurzen Artikel in der Sonntagsausgabe des Nouvel Observateur vom Demonstrationszug berichten. Ein paar allgemeine Aussagen, ein paar dürftige Beschreibungen der 5 religiösen Symbole der Sikhs. Keine Erwähnung der geäußerten Ansprüche. Kein kritischer Kommentar. Der Protestzug, die erste öffentliche Kundgebung der Sikhs in Frankreich, verliert sich auf diese Weise in einer merkwürdig indifferenten Öffentlichkeit. Sikhs sind präsent wie selten zuvor und doch bleiben sie in entscheidender Weise abwesend vom öffentlichen Diskurs.
Sikhs im Rhein-Main Gebiet
Eine Woche später im Frankfurter Stadtteil Unterliederbach. Wir finden uns zur sonntäglichen Zusammenkunft im hiesigen Gebetshaus der Sikhs ein und treffen auf viele Bekannte aus Paris. Es herrscht ein Gedränge im Vorraum. Zwei uniformierte Polizisten haben den Gurdwara betreten. Sie suchen eine Person, die sie zuvor auf der Straße kontrolliert haben. Die Gesichter der Beamten sind uns bereits bekannt, sie patrouillieren regelmäßig sonntags die Strecke von der S-Bahnhaltestelle zum Gurdwara in der Hoffnung einige "Illegale" aufzuschnappen. Man hat sich bereits an die Überwachung gewöhnt und versucht die Polizisten höflich davon zu überzeugen, sich wenigstens ihrer Schuhe zu entledigen und eine Kopfbedeckung zu tragen. Den Polizisten, die ohne Durchsuchungsbefehl erscheinen und den Gurdwara während der religiösen Feierlichkeiten betreten, ist merklich unwohl in dieser Situation. Sie telefonieren, holen sich Ratschläge aus der Zentrale ein. Schließlich willigen sie ein, sich in grünen Polizeisocken auf die Suche zu machen. Umringt von einer Gruppe von Gemeindevertretern. Ihre Suche bleibt heute ohne Erfolg.
Die Gebetsstätte, die gleichzeitig das einzige Gemeindezentrum der im Rhein-Main Gebiet lebenden Sikhs darstellt, ist in verschiedener Hinsicht ein prekärer Ort. Menschen, die sich hier versammeln sind zwar zum großen Teil seit Jahren in Deutschland wohnhaft, einige von ihnen als wohlhabende Geschäftsleute, viele als Teil der arbeitenden Bevölkerung im Dienstleistungsgewerbe. Aber es gibt auch andere: Menschen, die als politisch Verfolgte Zuflucht gefunden haben und nun seit Jahren ein Schattendasein als Asylbewerber mit Aufenthaltsberechtigung oder Duldung führen. Wir stellen immer wieder fest, dass gerade diejenigen, die einen eindeutig religiös geprägten Lebensstil führen, sehr offene und gebildete Gesprächspartner sind. Menschen, so stellen wir uns vor, die einen wichtigen Beitrag zur Integration der Gemeinde leisten könnten. Es sind Gesprächspartner, die aufgrund ihrer Residenzpflicht nicht nach Paris reisen konnten, die sich Woche um Woche weiterhangeln müssen, bedroht von Abschiebung und der Angst um eine erneute Einschüchterung durch die indische Polizei oder den Geheimdienst.
Das Kopftuchverbot: “Der Turban gehört zu mir!”
Wie soll man in diesem Kontext den Kopftuchstreit diskutieren? Angesichts der lokalen Probleme, denen man sich gegenübersieht, scheint für viele nach Deutschland zugewanderte Sikhs die sogenannte affair du foulard bestenfalls zweitrangig. Zumindest sehen wir keine großen Anstrengungen das Thema Sikh Turban in eine deutsche Öffentlichkeit hinein zu tragen. Und das obgleich man die Gefahr einer allmählichen Verbannung religiöser Symbole auch in Deutschland befürchtet. Gerade hat das Hessische Landesparlament über ein Kopftuchverbot im gesamten öffentlichen Dienst beraten. Ist ein solches Gesetz verfassungsgemäß? Wird es letztendlich zu einer Ausweitung führen, nach der auch andere religiöse Symbole betroffen sein werden? Wahrscheinlich fehlt es der Gemeinde derzeit noch an den notwendigen materiellen und diskursiven Ressourcen, um eine solche Diskussion in der Öffentlichkeit zu führen. Man lebt noch sehr stark auf die eigene ethnische Gruppe hin orientiert, es gibt kaum Anbindungen an das institutionelle Umfeld der multikulturellen Einrichtungen der Stadt Frankfurt. Erst mit einer Heranrückenden zweiten Generation in Deutschland aufgewachsener Sikhs kann sich das ändern.
Die Antworten der Sikh Jugendlichen auf einige unserer Fragen bezüglich ihrer Einschätzung religiöser Symbole fallen entsprechend heterogen aus. Wenn auch eine große Anzahl so genannter "clean shaved" Sikhs (d.h. nicht getaufte Sikhs, die den religiösen Vorschriften nur noch bedingt folgen), finden wir auch in Deutschland gerade bei den Jüngeren eine zunehmende Anzahl von Turbanträgern. Die meisten berichten, dass sie in der Schule wenige Probleme haben. Ab und an eine Pöbelei, meistens aber eine positive Einschätzung ihrer "exotischen" Andersartigkeit. Die Marginalität des Turbans verbunden mit seiner Exotik scheint gerade in Deutschland zur Anerkennungsbedingung geworden sein. Eine Szene, die sich so im Büro einer Frankfurter Beratungsstelle zwischen einem deutschen Sikh und einer Angestellten abgespielt hat, versinnbildlicht dies. Der Sikh - nennen wir ihn Harwinder Singh – und die Angestellte befinden sich in einer Diskussion über das Kopftuch. Harwinder will nicht verstehen, warum er als Lehrer per se einen missionierenden Einfluss auf Kinder ausüben sollte. Wie der Rechtsstreit um Frau Ludin zeigte, ist die Frage der ideologischen Wirkung auf Kinder ein Knotenpunkt der Diskussion. Die Angestellte erwidert, ja bei ihm sei das auch anders, der Turban wäre ja etwas Exotisches, das Kopftuch dagegen repräsentiere Fundamentalismus. Die alte Tradition des Orientalismus erlaubt es demnach den Turban als exotisches Anderes zu konstruieren und auf diese Weise einzuverleiben.
Bei den Sikh Jugendlichen fällt uns aber noch etwas anderes auf: Vielen von ihnen ist die genaue religiöse Bedeutung der ungeschnittenen Haare und des Turbans gar nicht so richtig bewusst. Zumindest können sie es im Gespräch nicht in Worte fassen. Vielmehr beginnen sie im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um Kopftücher und Religion, die Kopfbedeckung, die sie seit Kindesalter tragen, als einen Teil ihrer religiösen Persönlichkeit zu verstehen. Die Debatte hat also auch diese Wirkung: Sie führt zu einem Nachdenken über "traditionelle" Lebensstile. Dieses Nachdenken, so zeigt das britische Beispiel, wird zu einer vermehrten Zustimmung und Selbstbestimmung über das Turbantragen führen.
Diese Aushandlungsprozesse religiöser Identität finden im Falle der französischen wie auch der deutschen Sikhs abseits der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit statt. Sie ist teilweise eingebunden in die angelsächsische Debatte, aber weitgehend unbemerkt in Deutschland und Frankreich. In einem kürzlich veröffentlichten Thesenpapier des Interkulturellen Rates in Deutschland heißt es: "Aushandlungsprozesse bedürfen gleichberechtigter und verlässlicher Dialogpartner. Für die notwendigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse müssen geeignete Instrumentarien aufgebaut werden." Wie diese institutionalisierten Anerkennungsbedingungen eines auf diese Weise wertgeschätzten "gleichberechtigten Aushandlungsprozesses" aussehen sollen, bleibt jedoch im Dunkeln. Für die in Deutschland und Frankreich lebenden Sikhs jedenfalls gilt, dass gut gemeinte Konsensbestrebungen im Sinne eines offen geführten Diskurses die Kernproblematik ihrer Identitätsfragen nicht berühren. Solange Menschen institutionell ins Versteck gedrängt werden und gleichzeitig nicht über die Möglichkeiten und Motivationen verfügen, aus diesem Versteck hervor zu kommen, findet der Aushandlungsprozess ohne wirkliche Dialogpartner statt.